«Ich hatte plötzlich ein Couvert auf dem Schreibtisch»
«Ich hatte plötzlich ein Couvert auf dem Schreibtisch»
Bild: Philipp Rohner
Im Streit um nachrichtenlose Vermögen beschafften Privatagenten für die Schweiz brisante Informationen in Washington und Tel Aviv. Dies enthüllt der damals als Krisenmanager eingesetzte Ex-Diplomat Thomas Borer.
Martin Stoll und Interaktiv-Team
Es war die gravierendste aussenpolitische Krise der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg: der Konflikt um nachrichtenlose jüdische Vermögen und Raubgold. Die Schweiz wurde wegen ihres Umgangs mit namenlosen Bankkonten, ihrer Flüchtlingspolitik und wirtschaftlichen Beziehungen zu Nazi-Deutschland scharf kritisiert.
Vor 20 Jahren, am 12. August 1998, endete der Streit. Hinter den Kulissen schlossen Anwälte der Schweizer Grossbanken, US-Sammelkläger und der Jüdische Weltkongress überraschend einen Vergleich ab. Nur Tage zuvor hatte die Krise den Höhepunkt erreicht. Diplomatische Gespräche waren abgebrochen worden, US-Staaten drohten, den Geschäftsverkehr mit Schweizer Banken und Firmen auf Eis zu legen. Die rechtspopulistischen Schweizer Demokraten riefen zum Boykott amerikanischer und jüdischer Waren auf.
Thomas Borer, damals 41-jährig, war vom Schweizer Aussendepartement als Krisenmanager eingesetzt worden. In seiner Villa am Zürichsee, unter einem schweren Kronleuchter, spricht der heutige Unternehmensberater über bis jetzt nicht publik gewordene Vorgänge hinter den Kulissen. Zum Beispiel über die wichtige Rolle, die Privatagenten spielten.
In seiner Villa am Zürichsee, unter einem schweren Kronleuchter, erzählt der heutige Unternehmensberater über bis heute nicht publik gewordene Vorgänge hinter den Kulissen. Bild: Philipp Rohner
Zur Krisenbewältigung setzen Staaten Geheimdienste ein. War Ihnen der Geheimdienstchef Peter Regli damals eine Hilfe?
Der Nachrichtendienst war für uns zwischen 1996 und 1997 weitgehend nutzlos. Weder in den USA noch in Israel hatte er die nötigen Zugänge. Dies hat sich erst ab 1998 verbessert. Nützlicher war die Zusammenarbeit mit Genfer Privatbankiers und Wirtschaftsführern in Basel und Zürich. Diese haben Leute gefunden, die uns Informationen beschaffen konnten. Sie haben auch mal einen Informanten bezahlt. Da kam das eine oder andere Gute heraus.
Was waren damals Ihre Informationsbedürfnisse?
Wir wollten wissen, was die Absicht und die Zielsetzung des World Jewish Congress und der US-Regierung sind. Wir wollten mehr über die Rolle Israels wissen. Gibt es beispielsweise in der Sache Aufträge oder Schreiben von Regierungschef Benjamin Netanyahu an Bronfman, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses?
Und da haben Sie …
… solche Briefschreiben bekommen. Es gab Schreiben, in denen Netanyahu das Vorgehen Bronfmans legitimiert hat. Es gab auch Schreiben, in denen er ihm gratuliert hat. Das konnten wir dann öffentlich machen und auf die israelische Regierung Druck ausüben.
Am 17. September 1998 publizierte die «Thurgauer Zeitung» einen Fax des israelischen Ministerpräsidenten an den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses. Eine Quelle nannte die Zeitung nicht. Im Schreiben bedankte sich Netanyahu für den Kampf Bronfmans gegen die Profiteure des Holocaust. Heute ist klar: Der Fax kam von der Taskforce. Nach der Publikation verlangte die Schweizer Regierung von Israel eine Erklärung. Sie stellte eine Reise des Rüstungschefs nach Israel und einen Besuch Netanyahus in der Schweiz infrage. Durch den Druck war Israels Staatschef gezwungen, die Freundschaft mit der Schweiz öffentlich zu bekräftigen.
Sie haben einen privaten Nachrichtendienst aufgezogen?
Nein, nicht ich persönlich, sondern Privatpersonen. Deren Aktivitäten waren für die Schweiz sehr nützlich und in deren Interesse. Den ersten Bericht von US-Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat, in dem die Schweizer als Bankiers der Nazis bezeichnet wurden, durfte ich erst 24 Stunden vor der Publikation lesen. Die Zeit war zu knapp, um darauf angemessen reagieren zu können. Beim zweiten Eizenstat-Bericht war das anders. Diesen Bericht haben wir beschafft bekommen. Ich hatte plötzlich ein Couvert auf dem Schreibtisch, und da war der Entwurf des Eizenstat-Berichts drin. Auch den Wiesenthal-Bericht hatten wir frühzeitig. Wir konnten auf den zweiten Eizenstat-Bericht massgeblich Einfluss nehmen, uns medial vorbereiten, Gegenberichte vorbereiten und aktiv die Medienhoheit gewinnen.
Wäre diese Nachrichtenbeschaffung durchgesickert, hätten Sie ein Problem gehabt.
Natürlich waren wir vorsichtig und haben keine E-Mails herumgeschickt. Wir haben uns sehr oft getroffen. Ich hatte viele Gespräche mit Wirtschaftsführern. Bei solchen Gelegenheiten habe ich jeweils gesagt: Es wäre schon sehr schön, wenn ich das eine oder andere wüsste.
Sie gingen an die Grenze für die Schweiz. War das legal?
Wir haben nichts Verbotenes gemacht. Mein oberstes Ziel war es, die Interessen der Schweiz zu wahren. Das haben wir nach bestem Wissen und Gewissen gemacht.
In welchem Zustand war damals die Schweizer Volksseele?
Am Schluss hat sie gekocht. Anfänglich war die Sympathie noch aufseiten der jüdischen Organisationen. Man war der Meinung, die Schweizer Banken, vielleicht auch der Bundesrat, hätten während Jahrzehnten grosse Versäumnisse begangen. Nachdem die Angriffe von jüdischen Organisationen und der US-Regierung schärfer und objektiv gesehen unfair wurden, hat sich die Situation verändert. Uns wurde damals ja vorgeworfen, wir hätten den Weltkrieg um Jahre verlängert. Wir seien die Banker der Nazis gewesen. Das waren inakzeptable Vorwürfe, welche die Stimmung völlig umschlagen liessen.
Wie sind Sie Taskforce-Chef geworden?
Ich war damals stellvertretender Generalsekretär im Aussendepartement (EDA). Das Haus brannte, und die Bundesräte haben sich gegenseitig die heisse Kartoffel zugeworfen. Mein Chef, Bundesrat Flavio Cotti, hat dann die Bildung eines Krisenstabs angeregt. Verdiente Botschafter haben den Job als Krisenmanager allerdings abgelehnt. Ich wurde von Lloyd Cutler, einem bekannten Rechtsanwalt und Berater von Präsident Bill Clinton, ins Gespräch gebracht. Staatssekretär Kellenberger hat dies unterstützt. Cotti gab mir 48 Stunden Bedenkzeit. Wie es sich für einen Diplomaten gehört, habe ich Pro und Kontra abgewogen und auch Nationalrat Ernst Mühlemann, den Schattenaussenminister, angerufen. Seine Antwort war klar: «Wenn das Vaterland ruft, geht man und fragt nicht, ob das einem nützt.» Er hatte recht. Deshalb habe ich auch zugesagt.
Aus Dok-FIlm «Affäre Meili – Ein Whistleblower zwischen Moral und Milliarden», www.meili-story.ch
Ab Oktober 1996 änderte sich das Leben Borers grundlegend. Täglich um 6:30 Uhr fanden Briefings mit Bundesrat Cotti statt. Die Arbeitstage dauerten oft bis 24 Uhr. Am 11. Dezember 1996 trat Botschafter Borer erstmals vor dem Bankenausschuss des US-Repräsentatenhauses auf. «Mein wichtigster Auftritt», sagt er im Rückblick, «für die Schweiz war es ein grosser Sieg, auch weil wir medial erstmals Oberhand hatten». Im Dezember 1996 schlug der Task-Force-Chef an einer Sitzung im Bundeshaus West dem Bundesrat und Wirtschaftsführern eine schnelle Lösung vor: Die Zahlung von 250 Millionen Franken per Saldo aller Ansprüche. Banken und Versicherungen waren dagegen. Eine solche Zahlung würde einer Schuldanerkennung gleichkommen, glaubten sie. Also schwenkte die Schweiz auf eine harte Linie um. Dabei kam es immer wieder zu Pannen: Ende Dezember 1996 sprach Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz in einem Interview von einer «Lösegeld-Erpressung». Aus jüdischen Kreisen hagelte es heftige Kritik. Zwei Wochen später machte der Wachtmann Christoph Meili Aktenvernichtungen bei der Schweizerischen Bankgesellschaft SBG publik. Die «SonntagsZeitung» publizierte Auszüge aus einem internen Lagepapier, in dem der Schweizer Botschafter in den USA, Carlo Jagmetti, aggressives Vokabular verwendete. Im selben Monat trat Jagmetti zurück.
Wie haben Sie diese Tage in Erinnerung?
Das war wie ein ganz schlechter Film. Was schiefgehen konnte, ging schief. Wenn wir ein Problem halbwegs gelöst hatten, kam am nächsten Tag ein noch grösseres hinzu. Schlimm war, dass all dies vermeidbar gewesen wäre.
Vermeidbar?
Von Meili würde heute niemand mehr sprechen, wenn wir ihm damals einen grossen Blumenstrauss für seine Frau, einen kleinen Check für seine Umtriebe und eine grosse Kiste Schokolade übergeben hätten. Das hat Bundesrat Cotti aber nicht begriffen, und der damalige SBG-Chef Studer schon gar nicht. Für mich war offensichtlich, dass die Amerikaner den Whistleblower Meili lieben würden, den kleinen Kämpfer, der ein grosses Verbrechen öffentlich gemacht hat. Und Delamuraz: Ich weiss nicht, was ihn da geritten hat. Es dauerte geschlagene zwölf Tage, bis er sich für seine Aussagen entschuldigte. Schliesslich noch Jagmetti: Das war gemein (lacht).
Der Jagmetti-Bericht landete tatsächlich bei der «SonntagsZeitung». Wir waren der Meinung, dass die kriegerischen Worte der Lageanalyse eine Denkweise verrät, die im Gegensatz steht zum offiziell vertretenen Standpunkt der Regierung.
Das waren ja vertrauliche Berichte an mich. Diplomaten haben damals oft harte Worte benutzt. Jagmetti war auch Oberst. Da beschreibt man mal «Krieg». Seine Einschätzung war richtig. Letztlich war es – ich stehe zu dem Wort – fast eine kriegerische Auseinandersetzung mit anderen Mitteln.
1997 werden die Streitverhandlungen immer schwieriger. Im März 1998 droht Edgar Bronfman, der Präsident des World Jewish Congress: «Wir kommen nun an einen Punkt, an dem die Angelegenheit erledigt werden muss. Oder wir kommen zum totalen Krieg.» Im Juli beschliessen US-Bundesstaaten Sanktionen gegen Schweizer Firmen. Die Schweizer Wirtschaftsführer treffen sich zu einem vertraulichen Krisengipfel in der Nationalbank in Zürich.
Wie hat sich die Schweiz in dieser Phase verhalten?
Wirtschaftsführer haben auf uns gehört und ab 1998 hartes Lobbying betrieben. Die Schweiz war einer der grössten Investoren in den USA. Novartis und die Banken beschäftigten in New Jersey mehr als 20’000 Mitarbeiter. Firmenmitarbeiter wurden losgeschickt. Sie nahmen Einfluss auf den Gouverneur, die Senatoren und die Kongressabgeordneten. Ihre Botschaft war klar: Die Schweiz macht das Richtige. Werden Sanktionen ergriffen, wird sich die Firma überlegen, den Standort zu wechseln. So kamen die jüdischen Organisationen nicht zu einem «Free Lunch», denn im Parlament gab es plötzlich Abgeordnete, die sagten: «Die Schweiz macht ja das Richtige.»
Sie waren der Dirigent dieses Orchesters?
Ich stand an der Spitze einer Superorganisation, der Taskforce. Wir haben in Zusammenarbeit mit Spezialisten aus der Wirtschaft auch ein Programm entworfen, das nachhaltige PR- und Lobby-Aktivitäten für vier Jahre mit einem Budget von 100 Millionen Franken vorgesehen hat. Die Wirtschaft hätte das finanziert. Weil es überraschend zum Vergleich kam, wurde das Programm leider nicht mehr umgesetzt. Wir haben es versäumt, für die Schweiz langfristig ein «Goodwill-Reservoir» aufzubauen, das wir auch später, insbesondere beim Steuerstreit mit den USA, gebraucht hätten.
Hat die Schweiz aus dieser Krise gelernt?
Das Ernüchternde, Deprimierende für mich ist, dass die Schweiz, die Regierung und die Banken wenig gelernt haben. Es fing schon damit an, dass der Bundesrat im März 1999, als die Taskforce aufgelöst wurde, von mir keinen Schlussbericht wollte. Auch die Banker haben keine Lehren daraus gezogen. Im Streit um die nachrichtenlosen Vermögen hätten wir in den USA Freunde gebraucht. Wir konnten auf keinen einzigen zählen. Die Schaffung eines Goodwill-Reservoirs in den USA war eigentlich beschlossene Sache. Die Pharma- oder die Maschinenindustrie waren bereit, hier einiges zu leisten. Aber die Banken haben gesagt: Jetzt haben wir bezahlt, das reicht. 2007 hat die Geschichte die Banken mit dem Streit über die Steuerhinterziehung in den USA dann erneut eingeholt. Sie waren schlecht vorbereitet, hatten keine Strategie, kaum US-Unterstützung, und am Ende hat dies die Schweizer Bankenindustrie noch mal drei bis vier Milliarden gekostet.
Das hehre Ziel war es, Gerechtigkeit herzustellen. Wurde dies erreicht?
Nein. Am Schluss haben die Angriffe der jüdischen Organisationen und Eizenstats zu einer solchen Verhärtung in der Schweiz geführt, dass ein Hinterfragen der eigenen Geschichte und der eigenen Handlungen nicht mehr möglich war. Zudem war die Geldverteilung teilweise ein Skandal. Es gab Korruption und Misswirtschaft. Jüdische Exponenten haben sich persönlich bereichert und mussten dafür bestraft werden. Aber das hat die Schweiz nicht zu verantworten. Ich habe den Schweizer Bankern immer empfohlen, ja nichts mit der Geldverteilung zu tun zu haben. Den Rat befolgten sie zum Glück.
Was geschah wann?
7. Februar 1996
Schweizer Banken publizieren eine Erhebung zu nachrichtenlosen Vermögen aus der Nazi-Zeit. Sie nennen 775 Konti mit 38,7 Millionen Franken Guthaben - ein für jüdische Organisationen «unakzeptables», weil viel zu tiefes Ergebnis.
3. Oktober 1996
Eine Klage von Naziopfern gegen Schweizer Banken über 20 Milliarden Dollar wird eingereicht.
25. Oktober 1996
Die «Taskforce Schweiz – Zweiter Weltkrieg» unter Botschafter Thomas Borer wird eingesetzt.
11. Dezember 1996
Erklärung von Thomas Borer vor dem Bankenausschuss des US-Repräsentantenhauses.
19. Dezember 1996
Der Bundesrat setzt eine unabhängige Expertenkommission unter dem Vorsitz des Schweizer Historikers Jean-François Bergier ein. Sie untersucht das Verhältnis der Schweiz zu Nazideutschland.
31. Dezember 1996
Bundespräsident Delamuraz spricht öffentlich von «Lösegeld-Erpressung» und löst in jüdischen Kreisen heftige Reaktionen aus.
14. Januar 1997
Wachmann Christoph Meili macht Aktenvernichtungen in der Bankgesellschaft publik.
26. Januar 1997
Die «SonntagsZeitung» veröffentlicht Auszüge aus einem Papier des Schweizer Botschafters in den USA, Carlo Jagmetti. Er tritt am nächsten Tag zurück.
5. Februar 1997
Die drei Schweizer Grossbanken stellen 100 Millionen Franken für einen humanitären Fonds zugunsten der Naziopfer zur Verfügung.
7. Mai 1997
US-Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat wirft der Schweiz vor, mit ihrem Verhalten den Krieg verlängert zu haben. Die Taskforce reagiert sofort, der Bundesrat 15 Tage später.
10. März 1998
Edgar Bronfman, der Präsident des World Jewish Congress, droht der Schweiz mit dem «totalen Krieg».
2. Juni 1998
Der zweite Eizenstat-Bericht zur Schweiz, zu Argentinien und weiteren Ländern wird veröffentlicht. Der Bundesrat reagiert gleichentags mit einer Stellungnahme.
2. Juli 1998
New York und weitere US-Bundesstaaten beschliessen, Sanktionen gegen Schweizer Banken und Firmen stufenweise in Kraft zu setzen.
12./13. August 1998
Schweizer Grossbanken, Sammelkläger und jüdische Organisationen schliessen einen Vergleich in der Höhe von über 1,25 Milliarden Dollar.
31. März 1999
Die «Taskforce Schweiz – Zweiter Weltkrieg» wird aufgelöst.
17. Juli 2001
Richter Edward Korman gibt die ersten Zahlungen über 43 Millionen Dollar an jüdische Kläger frei.
31. März 2011
Das Claims Resolution Tribunal, das von Zürich aus die Verteilung der Vergleichsmilliarde vornimmt, löst seine Büros auf. Laut Kritikern fanden sich nicht genügend berechtigte Antragsteller, sodass die Vergabekriterien laufend aufgeweicht wurden. Ein Schlussbericht steht noch immer aus.