Tages-AnzeigerTages-Anzeiger

Schiessen oder schützen?

Was sich mit dem neuen Jagdgesetz alles ändert: Der grosse Faktencheck bei acht geschützten Tierarten.

Barbara Reye, Stefan Häne und Patrick Vögeli
Aktualisiert am 18. August 2020

Die Lager sind gespalten, die Stimmung ist aufgeladen: Soll der Wolf bei Konflikten früher als bis anhin geschossen werden? Und sollen die Kantone dabei mehr Verantwortung erhalten? Solche Fragen stehen im Zentrum des revidierten Jagdgesetzes, das am 27. September zur Abstimmung gelangt.

Die Umweltverbände: Sie sprechen von einem Abschussgesetz, welches das bislang ausbalancierte Dreieck von Schutz, Regulierung und Jagd in Schieflage bringe.

Parlament und Bundesrat: Sie argumentieren, die Revision schaffe mehr Sicherheit für Tier, Natur und Mensch und fördere die Artenvielfalt.

Der heimische Wolf

Der Wolf ist vor rund 25 Jahren allein in die Schweiz zurückgekehrt. Inzwischen gibt es 10 Rudel, und mit den diesjährigen Welpen leben hierzulande derzeit rund 100 Wölfe. Dies löst bei vielen Menschen Begeisterung aus, bei anderen dagegen Ablehnung und Angst. Platz hätte es bei uns für rund 300 Wölfe, verteilt auf 50 bis 60 Rudel. Zumindest gäbe es hierzulande genug Wildtiere als Nahrung und auch geeigneten Lebensraum.

Grundsätzlich gehört der Wolf zur heimischen Artenvielfalt und stellt in der Regel keine Gefahr dar. Doch es kommt immer wieder auch zu grossen Attacken auf Nutztiere. So hat er vor kurzem in einer einzigen Nacht 19 Schafe auf der Alp Fursch in der St. Galler Gemeinde Flums gerissen.

Faktencheck bei acht geschützten Tierarten

Wir nehmen das neue Jagdgesetz ins Visier und zeigen, was sich in Zukunft ändern soll.

Wolf (Canis lupus)
Bestand: rund 100 Tiere.
Status:
Global (IUCN)
nicht bedroht
Europa (Berner Konvention)
streng geschützt
Schweiz
geschützt
Verbreitung:natürliche Wiedereinwanderung und rasche Ausbreitung im Alpenraum, derzeit mindestens 10 bekannte Rudel.
Konflikt mit Jägern und Bauern:Beutetiere (Rothirsch, Reh, Gämse, Wildschwein, aber auch Nutztiere).
Altes Jagd- und Schutzrecht:Abschuss von Einzelwölfen durch Kantone nach erheblichem Schaden ohne Anhörung des Bundes. Regulierung der Anzahl Wölfe in einem Rudel durch Kantone bei grossem Schaden oder einer erheblichen Gefährdung von Menschen nur mit Zustimmung des Bundes.
Neues Jagd- und Schutzrecht:Wolf bleibt geschützt. Doch die Abschussbewilligung wird gelockert: In Zukunft reicht bei Einzelwölfen im Vergleich zu früher ein geringerer Schaden aus oder auch auffälliges Verhalten (Eindringen in Schafställe oder ohne Scheu durch Dörfer streifen), neu erst nach Anhörung des Bundes. Um Schäden an Schafen und Ziegen zu verhindern, dürfen präventiv maximal die Hälfte der Jungwölfe aus einem problematischen Rudel geschossen werden. Dafür ist nur noch eine Anhörung des Bundes statt einer Zustimmung notwendig. Zudem zahlt der Bund zwar weiterhin 80 Prozent Entschädigung bei Nutztierrissen wie bisher, aber nur wenn die zumutbaren Herdenschutzmassnahmen auch ergriffen wurden.
Steinbock (Capra ibex)
Bestand: 18’000 Tiere.
Status:
Global (IUCN)
gefährdet
Europa (Berner Konvention)
geschützt
Schweiz
geschützt
Verbreitung:Alpen
Wieder­ansiedlung ab 1911:Um 1650 war der Steinbock in weiten Teilen der Alpen ausgerottet. Ab 1911 erste, rein gezüchtete Steinböcke in der Schweiz, die ursprünglich von geschmuggelten Tieren aus dem italienischen Aostatal abstammen.
Konflikt:Bergwaldverjüngung.
Altes Jagd- und Wildtier­schutzrecht:Abschuss von Einzeltieren durch die Kantone nach erheblichem Schaden ohne Anhörung des Bundes. Bestandsregulierung vorausschauend erlaubt, um Schäden am Lebensraum (Bergwaldverjüngung) zu verhindern, nur mit Bewilligung des Bundes.
Neues Jagd- und Wildtier­schutzrecht:Abschuss von Einzeltieren durch die Kantone im Vergleich zu früher auch bereits nach geringerem Schaden ohne Anhörung des Bundes. Wenn eine Kolonie mindestens 100 Tiere aufweist und grössere Schäden am Wald drohen, kann der Bestand auch vorausschauend reguliert werden, nach Anhörung des Bundes.
Europäischer Luchs (Lynx lynx)
Bestand: ca. 300 Tiere.
Status:
Global (IUCN)
nicht bedroht
Europa (Berner Konvention)
geschützt
Schweiz
geschützt
Verbreitung:West- und Zentralalpen, Jura, Alpstein und Toggenburg, Surselva.
Wieder­ansiedlung ab 1971:Luchse aus den Karpaten in OW und später in NE und VS freigelassen. Insgesamt wurden in den 1970er-Jahren 25 bis 30 Luchse ausgesetzt, auch von Privatpersonen.
Konflikt mit Jägern und Bauern:Beutetiere (Reh, Gämse, gelegentlich auch Nutztiere). Bund zahlt 80 Prozent Entschädigung bei Nutztierrissen durch Luchse.
Altes Jagd- und Schutzrecht:Abschuss von Einzeltieren durch die Kantone bei erheblichem Schaden nach Anhörung des Bundes. Regulierung der Anzahl Luchse eines Bestands bei grossem Schaden nur mit Zustimmung des Bundes.
Neues Jagd- und Schutzrecht:Der Luchs bleibt geschützt. Abschuss von Einzeltieren im Vergleich zu früher auch bei geringerem Schaden, weiterhin aber erst nach Anhörung des Bundes. Das Parlament hat entschieden, dass aus heutiger Sicht die Regulierung der Populationsdichte nicht notwendig ist.
Braunbär (Ursus arctos)
Bestand: keiner, nur Einzeltiere.
Status:
Global (IUCN)
nicht bedroht
Europa (Berner Konvention)
streng geschützt
Schweiz
geschützt
Verbreitung:Wanderung von Einzelbären durch Graubünden, Tessin, Zentralschweiz, Berner Oberland und Wallis.
Konflikt mit Jägern:Gelegentlich Nutztierrisse, Schäden an Bienenhäuschen, Sicherheitsrisiko. Bund zahlt 80 Prozent Entschädigung bei Nutztierrissen und Schäden an Bienenhäuschen durch Bären.
Altes Jagd- und Schutzrecht:Abschuss von Einzeltieren durch Kantone nach erheblichem Schaden nur nach Anhörung des Bundes. Kein Abschuss von einzelnen Bären wegen Gefährdung von Menschen.
Neues Jagd- und Schutzrecht:Der Bär bleibt geschützt. Abschuss von einzelnen Bären durch die Kantone im Vergleich zu früher auch nach geringerem Schaden oder auffälligem bzw. gefährlichem Verhalten (z.B. Eindringen in Schafställe oder ohne Scheu durch Dörfer streifen), weiterhin erst nach Anhörung des Bundes.
Europäischer Biber (Castor fiber)
Bestand: ca. 3500 bis 4000 Tiere.
Status:
Global (IUCN)
nicht bedroht
Europa (Berner Konvention)
geschützt
Schweiz
geschützt
Verbreitung:Mittelland von Genf bis zum Bodensee, Nordwestschweiz, Rhone, Rhein.
Konflikt durch Bautätigkeit:Stauen von Fliessgewässern, Untergraben von Dämmen (Sicherheitsrisiko), Bäume fällen.
Altes Jagd- und Schutzrecht:Abschuss von Einzeltieren durch Kantone nach erheblichem Schaden nur mit Bewilligung des Bundes. Kein Abschuss von einzelnen Bibern wegen Gefährdung von Menschen. Bestandsregulierung durch Kantone nach grossem Schaden nur mit Zustimmung des Bundes.
Neues Jagd- und Schutzrecht:Der Biber bleibt geschützt. Abschuss von Einzeltieren durch die Kantone im Vergleich zu früher auch bereits nach geringerem Schaden sowie bei Sicherheitsgefahren (Hochwasserschutzdämme untergraben) und auffälligem Verhalten (Menschen beissen), nur nach vorgängiger Anhörung des Bundes. Eine Bestandsregulierung hat das Parlament abgelehnt. Neu zahlt der Bund nicht nur 50 Prozent Entschädigung bei Schäden an land- und forstwirtschaftlichen Kulturen, sondern auch an Infrastrukturanlagen. Zudem beteiligt er sich an den Kosten für Präventionsmassnahmen.
Höckerschwan (Cygnus olor)
Bestand: ca. 600 bis 700 Brutpaare.
Status:
Global (IUCN)
nicht bedroht
Europa (Berner Konvention)
geschützt
Schweiz
geschützt
Aussetzung:vor 100 bis 300 Jahren als Ziervogel in die Schweiz gebracht.
Verbreitung:Mittelland, an Seen und Flussläufen.
Konflikt:durch Fütterung Nähe zum Menschen, Verunreinigung von Ufern und Viehweiden durch Kot.
Altes Jagd- und Schutzrecht:Abschuss von Einzeltieren durch Kantone nach erheblichem Schaden ohne Anhörung des Bundes. Kein Abschuss von einzelnen Schwänen wegen Gefährdung von Menschen. Bestandsregulierung bei grossem Schaden nur mit Zustimmung des Bundes.
Neues Jagd- und Schutzrecht:Der Höckerschwan bleibt geschützt. Abschuss von Einzeltieren durch Kantone im Vergleich zu früher auch nach geringerem Schaden weiterhin ohne Anhörung des Bundes. Bestandsregulierung durch die Kantone gemäss der in die Vernehmlassung geschickten Jagdverordnung vorausschauend erlaubt, um Schäden oder eine Gefährdung von Menschen zu verhindern, nur noch nach einer Anhörung statt einer Zustimmung des Bundes.
Graureiher (Ardea cinerea)
Bestand: 1600 bis 1800 Brutpaare, mehr als 2000 Vögel als Wintergäste.
Status:
Global (IUCN)
nicht bedroht
Europa (Berner Konvention)
geschützt
Schweiz
geschützt
Verbreitung:tiefere Lagen in der ganzen Schweiz.
Konflikt mit Fischzüchtern und Hobbyfischern:Beute (Fische, Mäuse und Amphibien), hält sich auch bei Fischteichen auf.
Altes Jagd- und Schutzrecht:Abschuss von einzelnen Graureihern durch die Kantone nach erheblichem Schaden ohne Anhörung des Bundes. Bestandsregulierung durch Kantone nach grossem Schaden nur mit Zustimmung des Bundes.
Neues Jagd- und Schutzrecht:Graureiher bleibt geschützt. Abschuss von Einzeltieren durch die Kantone im Vergleich zu früher auch nach geringerem Schaden weiterhin ohne Anhörung des Bundes. Bestandsregulierung unter dem neuen Recht nicht vorgesehen. Parlament hat dies abgelehnt.
Gänsesäger (Mergus merganser)
Bestand: 600 bis 800 Brutpaare, 4000 bis 5000 Wintergäste.
Status:
Global (IUCN)
nicht bedroht
Europa (Berner Konvention)
geschützt
Schweiz
geschützt
Verbreitung:Seen und grössere Fliessgewässer im Mittelland und im Tessin, vereinzelt Alpentäler bis 600 m ü. M.
Konflikt mit Fischern:Als Fischfresser erbeutet er bevorzugt Weissfische, aber auch Äschen, Felchen und Egli bis zu 10 cm.
Altes Jagd- und Schutzrecht:Abschuss von einzelnen Gänsesägern durch Kantone nach erheblichem Schaden ohne Anhörung des Bundes. Bestandsregulierung durch die Kantone nach grossem Schaden nur mit Zustimmung des Bundes.
Neues Jagd- und Schutzrecht:Der Gänsesäger bleibt geschützt. Abschuss von Einzeltieren durch die Kantone im Vergleich zu früher auch nach geringerem Schaden ohne Anhörung des Bundes. Eine Bestandsregulierung ist unter dem neuen Recht nicht vorgesehen. Das Parlament hat dies abgelehnt.

Was sich sonst noch ändert

Strengere Regeln für Jäger

Neu wird die Nachsuche auf verletzte Tiere landesweit obligatorisch. Wer dies unterlässt, dem droht eine Busse bis zu 20’000 Franken.

Entscheidung bei Kantonen

Zwar trägt der Bund weiter die Hauptverantwortung für den Schutz der Wildtiere. Die Kantone sollen aber neu die Entscheide über die Eingriffe in die Bestände bestimmter geschützter Arten wie den Wolf und den Steinbock selbst fällen können. Eine Zustimmung des Bundes ist nicht mehr nötig, die Kantone müssen aber vorgängig gegenüber dem Bund im Rahmen einer Anhörung begründen, weshalb Abschüsse nötig sind.

Härtere Auflagen für Bauern

Neu vergüten Bund und Kantone Schäden wie etwa Wolfsrisse nur noch, wenn Bauern oder Schafhalter die «zumutbaren» Verhütungsmassnahmen ergriffen haben.

Mehr Geld für Biber

Bund und Kantone entschädigen zudem neu Präventionsmassnahmen zur Verhütung von Schäden, welche Biber und Fischotter anrichten. Heute sind diese Zahlungen auf Grossraubtiere beschränkt. Auch vergüten Bund und Kantone in Zukunft Schäden, die Biber an Infrastrukturen anrichten – nicht nur wie heute an land- und forstwirtschaftlichen Kulturen.

Parlament entscheidet allein

Neu obliegt es ausschliesslich dem Parlament, geschützte Arten als jagdbar zu erklären. Bislang hatte auch der Bundesrat diese Kompetenz. Davon hatte er allerdings in den letzten 25 Jahren nur einmal im Fall der Saatkrähe Gebrauch gemacht. Der Bundesrat kann aber wie bisher die Liste jener geschützten Tierarten gestalten, die regulierbar sind; er kann also – wie neu beim Wolf – Eingriffe in die Populationen der aufgelisteten Arten erleichtern. Vorgängig führt der Bund immer eine Vernehmlassung bei den Kantonen und Verbänden durch. Für den Luchs, Biber, Graureiher und Gänsesäger hat das Parlament eine Regulierung abgelehnt. Die Revisionsgegner befürchten indes, dass nach der Abstimmung der Wind wieder dreht.

Besserer Schutz der Natur

Reservate und Schutzgebiete, die den Tieren als Rückzugsorte dienen, sowie Wildtierkorridore, die Lebensräume verbinden, erhalten zusätzliche finanzielle Mittel. Zudem werden verschiedene Tierarten besser geschützt, zum Beispiel die seltenen Wildentenarten wie die Tafelente.

Historischer Rückblick

Einst weg, jetzt wieder da

Ende des 19. Jahrhunderts waren die grossen Säugetiere in der Schweiz praktisch verschwunden. Steinbock, Wildschwein, Rothirsch, Reh kamen weitgehend nicht mehr vor. Und dies noch vor dem definitiven Aus für Luchs, Wolf und Bär. Einzig ein paar Gämsen gab es weiterhin. Mit der Folge, dass Grossraubtiere fortan vor allem Schafe und Ziegen frassen und deshalb gezielt abgeschossen wurden. Aber auch die Wälder wurden damals grossflächig gerodet, und dadurch wurde wichtiger Lebensraum zerstört. Erst durch das erste Jagdgesetz 1875, das eine kontrollierte Jagd auf eingeschränkten Gebieten und nur noch im Herbst einführte, sowie ein Jahr später das erste Forstgesetz 1876, das die Wälder schützte und für eine Wiederaufforstung sorgte, nahm die Anzahl Schalenwild langsam, aber stetig wieder zu. Letztmals wurde das Jagdgesetz 1986 geändert.

Am 27. September kommt die Revision dieses Jagdgesetzes nun an die Urne. Demnach dürfen zum Beispiel Wölfe und Steinböcke früher als bisher geschossen werden, wenn deren Populationsdichte in einem bestimmten Gebiet zum Problem wird. Bei Luchs, Biber, Graureiher und Gänsesäger ist dies in Zukunft verboten.